WELT am SONNTAG: Die Überdosis


03.11.2015 Meldungen



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Die Überdosis

Der Handel mit rezeptfreien Medikamenten wächst, vor allem dank des Internets. Der frühere Präsident der Arzneimittelaufsicht warnt vor Pillen-Missbrauch.

Mit den Risiken und Nebenwirkungen von Medikamenten kennt Harald Schweim sich aus. Der Bonner Pharmazieprofessor war Anfang 2000 Leiter der Arzneimittelaufsicht BfArM. Den Grundsätzen dieses Jobs, allen voran dem Schutz der Patienten, fühlt er sich bis heute verpflichtet. Entsprechend misstrauisch verfolgt der 65-Jährige von seinem Büro im heimischen Köln aus, wie rasant der Handel mit Arzneien über das Internet wächst. "Schon die gesetzliche Freigabe des Bezugsweges über das Internet im Jahr 2004 war ein Sündenfall, der Fälschern seitdem Tür und Tor öffnet", sagt Schweim.

Der passionierte Hobbyjäger spürt solchen Lücken im System seit Jahren nach. Dazu gehört für ihn auch die wachsende Zahl von Medikamenten, für die es kein Rezept braucht, sogenannte OTC-Arzneien. "Verschreibungsfrei heißt aber nicht, dass diese Arzneien unbedenklich sind", sagt er. Für ihn ist die Kombination aus OTC und Versandhandel bei bestimmten Wirkstoffen daher eine toxische Mixtur, die den Patientenschutz gefährdet und ein Einfallstor für Missbrauch bietet. Umstritten sind vor allem jene Präparate, in denen der Wirkstoff Paracetamol enthalten ist. Die Arznei gilt als Mittel der Wahl bei Fieber und Schmerzen, in zu hoher Dosierung kann das Medikament allerdings die Leber schädigen und sogar zum Tod führen. Zwar hat das Bundesgesundheitsministerium gerade wegen solcher Risiken die frei verkäufliche Packungsgröße auf zehn Gramm des Wirkstoffs begrenzt. Doch Kritiker wie Schweim befürchten, dass diese Grenze durch Mehrverkäufe über den Vertriebskanal Internet und Versandapotheken ausgehebelt wird.

In einer aktuellen Analyse hat der Bonner Pharmakologe deshalb die Arzneimittelverkäufe in Deutschland genauer untersucht. Ziel sei es gewesen, herauszufinden, ob der Versandhandel bei OTC-Produkten tatsächlich den Missbrauch zulasten des Gesundheitssystems fördere. "Was wir da an Daten zutage gefördert haben, hat uns erschüttert", sagt Schweim.

Demnach sei der Umsatz von OTC-Produkten im Versandhandel zuletzt um elf Prozent auf 1,2 Milliarden Euro gewachsen, inklusive Kosmetika und Nahrungsergänzungsmittel. Anders als bei Medikamenten auf Rezept, bei denen eine Bestellung über das Internet oft umständlicher ist als der Gang zur Apotheke vor Ort, boomt der Versand von Arzneien etwa gegen Husten oder Heiserkeit, die ohne ärztliche Überwachung eingenommen werden können. Wie fleißig die Deutschen Pillen schlucken, zeigt sich auch an den insgesamt 700 Millionen verkauften Packungen im Jahr 2014 mit knapp 30,7 Milliarden Tabletten und Kapseln. "Im Ergebnis bedeutet das statistisch eine Tablette pro Tag pro Bundesbürger", so Schweim. Interessant sei dabei vor allem, dass die durchschnittliche Arzneimittelpackung in Präsenz-Apotheken mit 41,5 Einzeldosen deutlich weniger Einheiten enthalte als die der Versandpharmazien mit 63,4 Einzeldosen. Das zeige bereits, dass der Versandhandel vorwiegend umsatzorientiert agiere, während die Apotheke vor Ort offenbar eher mengenbegrenzend wirke.

Als Beleg für diese These führt der Bonner Professor Detailanalysen zu Schmerzmitteln wie Paracetamol oder Kombi-Präparaten wie Thomapyrin oder Wick Medinait an. "Gerade solche Kombi-Präparate gegen Schmerzen und Erkältung sind therapeutisch unzweckmäßig, weil sie den Überblick über die aufgenommenen Mengen erschweren und das Risiko von Überdosierungen erhöhen", sagt Schweim. "Ein seriöser Apotheker wird solche Produkte gar nicht erst empfehlen." Die Verkäufe sprächen aber eine andere Sprache. So liege etwa bei Thomapyrin der Anteil der über den Versandhandel verkauften Packungen bei 17 Prozent und damit mehr als vier Prozentpunkte über dem durchschnittlichen Marktanteil der Versandapotheken von 12,5 Prozent im OTC-Markt: "Das klingt im ersten Moment wenig. Man muss aber berücksichtigen, dass ein Prozent Marktanteil etwa 120.000 Packungen entspricht." Für die Versandapotheken bedeute das 1,86 Millionen Euro Mehrumsatz für ein einziges Präparat.

Noch deutlicher kommt aus Sicht des Experten die Diskrepanz bei Wick Medinait zum Tragen. Im Versandhandel liege der Marktanteil für das Produkt bei 33,7 Prozent und damit fast dreimal so hoch, wie es dem durchschnittlichen Marktanteil der Versandapotheken entspricht. "Jedes Prozent, das der Versand über dem Durchschnitt aller Produkte im Versandhandel liegt, legt bei problematischen Arzneimitteln eine Vernachlässigung der Beratung nahe", so die harte Kritik des Pharmakologen. Augenscheinlich werde die festgelegte Freigrenze für die umstrittenen Paracetamol-Präparate durch den Mehrverkauf von Packungen aus Umsatzgründen häufig unterlaufen. "Für die Patienten und damit letztlich auch für das Gesundheitssystem, das für die Folgen des Missbrauchs von Arzneien aufkommen muss, birgt das Risiken", warnt er.

Beim Bundesverband Deutscher Versandapotheken (BVDVA) kann man mit solchen Vorwürfen wenig anfangen. "Unsere Mitglieder geben die Verantwortung als Apotheker ja nicht ab, nur weil sie ihre Medikamente über den Versandhandel zu den Patienten bringen", sagt Geschäftsführer Udo Sonnenberg. Stattdessen würden Bestellungen in den Versandapotheken häufig sogar sorgfältiger geprüft als in den Präsenzapotheken, wo der leitende Pharmazeut eben nicht immer persönlich verfügbar sei. "Solche Behauptungen, wonach wir den Umsatz vor das Patientenwohl stellen, sind daher völlig aus der Luft gegriffen."

Auch die Versandapotheke "Zur Rose" aus Sachsen-Anhalt, die zu den größten Versandapotheken in Deutschland zählt, wehrt sich gegen die Kritik. "Solche Vorwürfe entsprechen in keinster Weise dem, was bei uns Standard ist", sagt die Leitende Apothekerin Kathrin Grimm. Stattdessen werde jeder Kundenauftrag von Fachpersonal sorgfältig nach dem Vieraugenprinzip geprüft und bei kritischen Bestellungen zunächst Rücksprache mit dem Kunden gehalten. "Viele Bedenken können auf diese Weise geklärt werden, etwa, wenn jemand für andere Familienmitglieder mitbestellt oder als chronisch Kranker zu größeren Packungseinheiten greift."

Gerade chronisch Kranke wie etwa Diabetiker nutzten häufig den Vertrieb über die Versandapotheken, da sich ihr Medikamentenbedarf gut planen lasse. "Das erklärt auch, warum es in unserer Branche höhere Absatzmengen gerade bei größeren Packungen gibt", so Grimm. Bis vor Kurzem habe man Bestellungen von besonders problematischen OTC-Arzneien sogar prinzipiell nach oben begrenzt, doch dies sei beim Kunden nicht gut angekommen. "Die Patienten fühlen sich in diesem Fall schnell bevormundet, deshalb sind wir davon wieder abgekommen", sagt die Pharmazeutin. Stattdessen liege bei größeren Bestellungen von Präparaten mit Wirkstoffen, die zu einem Gewöhnungseffekt führen können – dazu zählt Grimm neben bestimmten Schmerzmitteln auch Abführpräparate und Nasensprays –, ein Schreiben bei mit dem Angebot, sich mit der Apotheke zwecks individueller Beratung in Verbindung zu setzen.

Wissenschaftler Schweim wiederum hält genau solche Maßnahmen, die den Mehrverbrauch problematischer Arzneien keinesfalls begrenzen, für Augenwischerei. Allerdings räumt auch er ein, dass es bei vorsätzlichem Missbrauch von OTC-Produkten keinen wirklichen Schutz geben kann – im Zweifel kauft der Patient das fragliche Produkt einfach bei verschiedenen Anbietern, egal ob in der Apotheke vor Ort oder im Internet. Für den einstigen Arzneimittelwächter steht daher außer Frage, was wirklich zu tun ist: "Der Versandhandel mit sicherheitspharmakologisch relevanten Arzneien sollte untersagt werden. Die Zahlen beweisen, dass hier Sicherheitslücken offensichtlich sind." Stattdessen sollten die Apotheker dazu verpflichtet werden, ihre Kunden vor Abgabe des Präparates persönlich zu beraten, wie das etwa bei der vom Versandhandel ausgeschlossenen "Pille danach" bereits der Fall sei.

Schweims einstiger Arbeitgeber, das BfArM, hält sich bedeckt. Zwar hatte sich das Amt in den vergangenen Jahren immer wieder dafür starkgemacht, auch für andere Schmerzmittel eine Rezeptpflicht für Großpackungen einzuführen. Derzeit allerdings will sich das BfArM offiziell nicht zu dem Thema äußern. Die Entscheidung, so heißt es dort diplomatisch, liege allein beim Bundesgesundheitsministerium. Dort wiederum lässt man sich Zeit: Ein Beschluss zu dem umstrittenen Thema wird schon seit Jahren immer wieder vertagt.


Artikel vom 27.09.2015 / Ausgabe 39 / Seite 8

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